gulag
 

 
   
 

4.6 Wirtschaftstätigkeit

Als wichtigste Quellen zur Ermittlung der Wirtschaftstätigkeit der Lager dienten Weisungsdokumente des NKWD-MWD, Kodeakten der Lager, verschiedene Übergabeprotokolle sowie der Briefwechsel zwischen den Zentralbehörden und den Lagerverwaltungen. Außerdem wurden Statistiken genutzt, die gelegentlich für den internen Gebrauch des NKWD-MWD-Apparats erstellt worden waren.

Die in diesen Dokumenten enthaltenen Daten sind so reichhaltig, dass man darüber ein weiteres Buch hätte schreiben können. Deshalb haben die Autoren eine strenge Auswahl und Strukturierung der ausgewählten Daten vorgenommen. Diese Strukturierung war auch der allgemeinen Situation jener Zeit geschuldet: Die Wirtschaftsorganisation war eine Mischform aus industrieller Arbeitsteilung (i.d.R. in der Hauptproduktion) und vorindustrieller Gutswirtschaft mit eigenen Schneidereien, Verpackungs-, Reparatur- und anderen Werkstätten (die manchmal auch großspurig Werkhallen genannt wurden) sowie angegliederter Landwirtschaft.

In den Lagereinträgen enthält das Feld "Wirtschaftstätigkeit" folgende Informationen: An erster Stelle stehen Angaben zur Hauptwirtschaftstätigkeit, um derentwillen das Lager überhaupt eingerichtet wurde. Fast immer entsprach sie der wirtschaftlichen Spezialisierung der übergeordneten Zentralbehörde bzw. Verwaltung des NKWD-MWD. In diesem Teil werden nach Möglichkeit die vollständigen Bezeichnungen und Standorte der Wirtschaftsobjekte angegeben sowie allgemeine Aussagen über die Wirtschaftstätigkeit des Lagers getroffen. Es wird vermerkt, ob die Lagerleitung für die Wirtschaftstätigkeit in Eigenregie verantwortlich war oder ob die Lagerarbeiten auf Vertragsbasis erfolgten, d.h. ob das Lager einer anderen Verwaltung nur vertraglich vereinbarte Arbeitskräfte offiziell überließ, wobei diese Verwaltung für die Organisation der Produktion verantwortlich war und nicht unbedingt dem NKWD-MWD angehören musste. In den Fällen, in denen es bei bedeutenden Wirtschaftsobjekten zu Änderungen kam, sind soweit möglich die Daten nach Abschluss der Arbeiten angegeben. Wenn es viele verschiedene und häufig wechselnde Wirtschaftsobjekte gab, wurde auf Datierungen verzichtet.

Weiterhin werden bedeutende Nebenwirtschaften (z.B. zentrale Autowerkstätten) mit ihren Standorten vermerkt. Am Ende werden alle weiteren in den Dokumenten angeführten Neben- und Hilfswirtschaften sowie angegliederte Landwirtschaften angeführt. Wenn die landwirtschaftliche Tätigkeit die Hauptproduktion darstellte, so wird diese natürlich an erster Stelle beschrieben (siehe z.B. WOHNUNGSBAU KARAGANDA UND ITL).

Es sei jedoch vermerkt, dass nach Aufarbeitung des riesigen Dokumentenbestands die Interpretation desselben mit einigen Schwierigkeiten verbunden war.

Erstens änderten die Wirtschaftsobjekte, insbesondere jene, die nicht dem NKWD-MWD unterstellt waren und von Häftlingen auf Vertragsbasis betrieben wurde, häufig ihre Bezeichnung und Zugehörigkeit oder wurden umstrukturiert. Diese Fälle wurden von den Verfassern nach Möglichkeit in den Fußnoten aufgeführt, doch erlauben die Unterlagen des NKWD-MWD keine lückenlose Aufstellung aller Änderungen. Wenn Daten fehlen, so werden in den Lagereinträgen sämtliche Bezeichnungen der Wirtschaftssobjekte genannt, so dass Mehrfachnennungen innerhalb eines Lagereintrags nicht ausgeschlossen sind.

Zweitens änderten sich häufig Anweisungen, die die Wirtschaftstätigkeit der Lager betrafen. Es gibt zahllose Aufträge an verschiedene Lager Zusatzarbeiten auszuführen, die nichts mit ihrer eigentlichen Wirtschaftstätigkeit zu tun hatten. Diese Weisungen wurden entweder gar nicht oder nur zum Teil erfüllt. Es ist bekannt, dass eine Reihe solcher Befehle ziemlich schnell wieder zurückgenommen und in den Lagern die angeordneten Arbeiten in Wirklichkeit gar nicht erst aufgenommen wurden. Es ist jedoch schwierig, diese Fakten zu erhärten, da solche Rücknahmen (z.B. findet man häufig die Formulierung: "ist bis auf weiteres zu stoppen") nicht unbedingt in Befehlsform erfolgten und somit von den Autoren nicht immer erfasst werden konnten. Auch in Bezug auf die Erfüllung der Hauptarbeiten gab es Unterschiede: vom vollständigen Abschluss der Bauarbeiten an einem Objekt und dessen Inbetriebnahme (wie im Falle des Moskau-Wolga-Kanals "J. W. Stalin" oder des Baus der Eisenbahnstrecke Konoscha-Kotlas) bis hin zu solchen Fällen, in denen zum Moment der Auflösung des Lagers die Arbeiten lediglich begonnen wurden (siehe z. B. BAU 510 UND ITL). Für jene Lager, zu deren Einrichtung es faktisch nie kam, sind im Feld "Wirtschaftstätigkeit" die geplanten Arbeiten angegeben, da tatsächliche Arbeiten offensichtlich nie stattfanden. In der Regel werden keine Angaben darüber gemacht, inwieweit die Arbeiten erfüllt wurden, da es dafür zahlreicher weiterer Quellen bedurft hätte.

Drittens ist der Anteil an Häftlingsarbeit aus den Dokumenten häufig nicht ersichtlich. Neben den Gefangenen beschäftigten die Lager häufig Bausoldaten, Kriegsgefangene, andere "Sonderkontingente" sowie Freie, so dass in Einzelfällen der Häftlingsanteil an der Gesamtzahl der Beschäftigten 10% und weniger betrug. Die Fälle, in denen aus den Quellen hervorgeht, dass der Betrieb bestimmter Wirtschaftsobjekte oder Arbeiten nicht von Häftlingen gewährleistet wurden, werden im Feld "Wirtschaftstätigkeit" nicht aufgeführt. Ein typisches Beispiel hierfür ist der Befehl, für ein bestimmtes Bauobjekt nur die der Lagerverwaltung zugewiesenen Trupps von Bausoldaten zu verwenden. Wenn den Autoren Angaben über einen hohen Anteil weiterer "Sonderkontingente" vorlagen, so wurde dies im Feld "zusätzliche Bemerkungen" vermerkt.