biographie

 
   
 
 

Albertine

Hönig

 
 

Ein Märztag hat begonnen. Draußen aber sehen wir nur ein dunkelgraues Wirbeln und Wogen, hören nur heulendes, jaulendes Stöhnen und Wüten, als um vier Uhr morgens der "Gong" ertönt und uns die Barackenaufseherin mit dem verhaßten "Podjom" (Aufstehen) weckt.

Unsere Brigadierin sagt: "Die Purga kommt von Südwest und ist hart. Zum Aktieren, zum arbeitsfreien Tag, wird es nicht genügen." Sie hat recht, die erforderlichen minus 36 Grad werden angeblich oder tatsächlich, wer will es entscheiden, nicht erreicht. "Wir wollen uns erst am Abend waschen", überlegen wir, "und über die wattierte Ohrenkappe noch ein Tuch binden, damit Erfrierungen möglichst vermieden werden."

Die Morgensuppe ist das reinste Wasser, der Brei angebrannt und ungenießbar.

Beim Auszählen an der Wache dauert es dann wirklich sehr lange. Der Sturm peitscht Schnee- und Eisstückchen waagerecht vorwärts, macht unsere Gesichter naß, unsere Augen tränen. Plötzlich schweigt er für Sekunden. In der Stille ist ein fernes eigentümliches Schwingen wahrnehmbar, beinahe klingt es wie Glockenläuten. Es sind Entlüftungsanlagen in den Kohleschächten. Eine Stimme sagt hinter mir in mundartlich-schwäbisch gefärbtem Deutsch: "Die Osterglocken läuten! Heute ist Ostern! Soweit haben uns diese Unmenschen gebracht, daß wir es beinahe vergaßen." Die Frau in der Reihe hinter mir ist fast gedrungen, mit rundem Gesicht, in dem jetzt ein Paar blaue Augen zornig blitzen, ganz zahnlos, obwohl sie erst die Vierzig erreicht haben mag.

Albertine Hönig: Der weite Weg oder Das Buch von Workuta. ADZ Verlag Bukarest 1995, S. 66/67.

(Textauswahl: S. Jenkner)

   
 

1901

In Mühlbach / Siebenbürgen (Rumänien) geboren. Besucht die Bürgerschule in Hermannstadt und arbeitet später als Lehrerin in Siebenbürgen.

August 1944

Leistet Fluchthilfe für deutsche Soldaten nach dem Frontwechsel Rumäniens.

Mai 1945

Verhaftung durch die rumänische Geheimpolizei und Übergabe an die sowjetischen Behörden.
Beschuldigung des organisierten Widerstandes gegen die Sowjetunion, Verurteilung in Odessa durch Fernurteil aus Moskau zu acht Jahren Zwangsarbeit.

1945-1953

Vollständige Verbüßung der Haftstrafe in Workuta.

bis 1959

Anschließende Verbannung in Workuta.

September 1959

Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland.

1961

Veröffentlicht ersten Bericht über Lagererlebnissen in der Schriftenreihe der Bundeszentrale für Heimatdienste.

1962

Ausführliche Aufzeichnungen fertiggestellt, findet jedoch in der Zeit der beginnenden Ost-West-Entspannung keinen Verleger.

1980

Stirbt in Stuttgart.

1995

Posthume Publikation der Erinnerungen "Der weite Weg oder Das Buch von Workuta" in deutscher Sprache Bukarest. In dem Buch erinnert sie sich an einen Ostertag in der Tundra.

Lagerhaft in

WORKUTA-ITL

     
 

Fotos, Illustrationen und Dokumente

Die Veröffentlichung des Fotos und Buchauszugs erfolgt mit freundlicher Genehmigung des des Vereins der "Freunde und Förderer der Siebenbürgischen Bibliothek".