"Die sogenannte ‚Freilassung’ erwies sich für mich fast als ein ebensolcher moralischer Schlag wie die Verhaftung oder der Transport von Karaganda nach Kolyma. Der Reihe nach: Etwa einen Monat vor der „Freilassung“ zitierte man mich zum Lagerleiter und wusch mir den Kopf: Ja, wir können dich nach dem Gesetz entlassen, aber wir können uns nicht bereitfinden, dir eine gute Beurteilung zu geben. Es gibt Fakten, die gegen dich sprechen. 1. hast du im letzten Jahr keine Staatsanleihe gezeichnet und 2. hast du die Erklärung des Wiener Friedenskongesses nicht unterschrieben. – Zur Staatsanleihe brachte ich dieselben Argumente vor wie letztes Jahr, und zu der Unterschrift unter jene Erklärung sagte ich, dass es einfach dumm sei, mich für einen Anhänger des Atomkrieges zu halten. Die erste Atombombe wird nämlich auf Moskau fallen, und dort lebt meine Familie. Ich war bereit, zu unterschreiben, aber unter der Bedingung, dass ich schreiben kann: Häftling Sobolew. Die Unterschriften der Gefangenen wurden als die von freien Bürger der UdSSR ausgegeben, und an diesem Betrug der UNO könnte ich nicht teilnehmen. Auf den Zusatz ‚Häftling’ ließ man sich jedoch nicht ein. Der Leiter der Kulturabteilung sagte, er könne mir kein gutes Zeugnis fürs Gericht ausstellen, aber er setzte hinzu, dass bald erneut Anleihen gezeichnet werden sollten und eine entsprechende Kampagne beginnen würde, und dann gebe man mir eine letzte Chance. ‚Von Ihrer Haltung wird die Frage Ihrer vorfristigen Entlassung abhängen’. Ich sagte, wenn es so stünde, wäre ich einverstanden, aber dann müsste ich mit leeren Händen aus dem Lager gehen, weil ich keine Reserven hätte, wenn ich das letzte Geld in die Anleihe investieren müsste. Man sagte mir: 'Wir wissen das und schlagen Ihnen vor, eben soviel zu geben, wie Sie können.’ Das zynische Abkommen wurde geschlossen, und beide Seiten haben sich daran gehalten." (Brief vom 2.9.1955)
Auszug aus dem Rehabilitierungsantrag:
"Folglich muss ich nochmals festhalten, dass das Untersuchungsverfahren äußerst unobjektiv geführt wurde und dass sich alle Bemühungen des Untersuchungsrichters … nicht darauf richteten, meine wahre politische Persönlichkeit zu zeigen, sondern um jeden Preis einen „Tatbestand zu konstruieren“. … Deshalb wurden systematisch nicht-sowjetische Untersuchungsmethoden angewandt: grobe Flüche, selbst im Beisein der Stenographistin, ständige Drohungen mit Karzer, die Drohung, mich in das Gefängnis von Suchanowo zu bringen, wo ich nach seinen Worten „in drei Monaten Tuberkulose“ bekäme, und außerdem sei da „ein feuchter Karzer, dort werden Sie nur in Unterwäsche sitzen …. usw.’… Dies alles hat meine natürliche Widerstandskraft gegen diese Ungerechtigkeit immer mehr gelähmt und versetzte mich in einen Zustand, in dem ich meinem Schicksal gegenüber völlig gleichgültig war, in dem ein Mensch nicht mehr für einen Freispruch kämpft, sondern nur noch davon träumt, dass das Verfahren bald zu Ende sei, damit er sich endlich ausschlafen kann. In diesem Zustand war ich gezwungen, Verhör-Protokolle zu unterzeichnen, die nicht meine tatsächlichen Antworten auf Fragen des Untersuchungsrichters wiedergaben. Wenn ich etwa geantwortet hatte: ‚Ich habe gesagt, dass…’ wurde einleitend hinzugefügt: ‚Da ich der Sowjetmacht gegenüber feindlich eingestellt war, habe ich gesagt…’ und weiter so in dem Stil."
Vasilij Sobolev: Pis'ma c Kolymy. Moskva 2000 (Briefe aus Kolyma. Moskau 2000). S. 74, 123 f.
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