biographie

 
   
 
 

Marlise

Steinert (geb. Hoffmann)

 
 

Die schwersten Zeiten der Gefangenen sind die Etappen. Das ist alte Gefangenenweisheit. Und es ist tatsächlich so. Man wird in ein Abteil geschoben, das an sich schon voll ist. In 2 Etagen liegen stinkende Weiber mit hängenden Strähnen. Unten auf der Bank sitzen welche mit bösen Augen. Alles ist so haßerfüllt, daß einem solcher direkt als Welle entgegenkommt. Als Etappenverpflegung gibt's die paika [Ration] und trockenen Salzfisch. Mit schmatzenden Zähnen zerren sie den Fisch von der Gräte und nachher haben sie Durst. Der Soldat im Gang läßt sich erweichen und stellt einen vollen Eimer hinein, und das Volk säuft, anders kann man's nicht nennen. Ins Clo wird man aber nur morgens und abends geführt.

Die erste Station machten wir in Kirow (Wjatka). Es waren alles Holzbaracken. Zuerst mußte man baden gehn. Dieses Baden in den Durchgangslagern peresylka [Durchgangslager, Verteilungslager] ist auch entsetzlich. Nackte Weiber drängen sich, um einen tazik (Schüssel) zu bekommen. In der Enge berührte einen leicht ein anderer nackter Körper, das war mir immer entsetzlich zuwider. Aber schon allein alle Sachen in die preccarka (zum Entlausen) geben, war auch mühsam, denn nachher unter den zahllosen Paaren seine Schuhe finden war gar nicht einfach....

Nach einigen Tagen ging die Fahrt weiter östlich. Die nächste Stelle, wo wir ausstiegen, war Petropawlowsk. Am Morgen früh verließen wir den Zug. 3 bis 4 km mußten wir bis zum Gefängnis gehen. Wir hatten wenig Konvoi, so gingen vorne 2 Soldaten und in der Mitte einer und hinten 2, aber zu beiden Seiten scharfe Hunde. Trostlos ist es mit Hunden geführt zu werden. Es war der 14.X.48 Pokrow djen Feiertag bei den alten Russen [Schutz-(Heiligen)Feiertag]. Vor den Gefängnispforten blieben wir stehen. Und so standen wir den ganzen Tag. Es fing an zu schneien, doch so ein nasser Schnee. Neben mir stand eine junge Mutter mit dem Kind auf dem Arm. Es schrie, war naß, war hungrig, doch windeln konnte sie es nicht, auch zu füttern genierte sie sich.

Marlise Steinert: Zelle - Baracke - Erdloch. Herausgegeben von Gisela Kurze, MEMORIAL Deutschland Berlin 2003,5.25-28.

(Textauszug S. Jenkner)

   
 

05.10.1904

In Riga (Lettland) geboren. Heirat mit Christoph Steinert, drei Kinder.

Januar 1945

Flucht mit Kindern, Mutter und Schwester nach Potsdam.

1945 - 1947

Dolmetscherin beim Chef der Verwaltung des NKGB/MBG im "Militärstädtchen Nr. 7" in Potsdam.

14.08.1947

Verhaftung durch das MGB. Untersuchungshaft im Gefängnis Leistikowstraße.

20.09.1947

Deportation nach Moskau.

1947 - 1948

Untersuchungshaft im Lefortowo- und Lubjanka-Gefängnis, Moskau.

22.09.1948

Verurteilung wegen angeblicher Spionage zu fünfzehn Jahren Lagerhaft.

1948 - 1953

Strafverbüßung im Lagergebiet Karaganda.

18.06.1953

Amnestiert nach Stalins Tod.

27.06.1953

Entlassung und Rücktransport.

31.12.1953

Ankunft bei der Familie in Verden/Aller.

1954

Fertigstellung ihrer handschriftlichen Aufzeichnungen über die Haftzeit.

26.04.1982

Stirbt in Verden/Aller.

1998

Postume Rehabilitierung.

2000

Übergabe von Steinerts Aufzeichnungen durch ihre Tochter Lore Siebert an die "Gedenk- und Begegnungsstätte ehemaliges KGB-Gefängnis Potsdam, Leistikowstr. 1" und Veröffentlichung durch MEMORIAL Deutschland e.V.

Lagerhaft in

KARAGANDA-ITL

     
 

Fotos, Illustrationen und Dokumente

Steinert, M.Steinert, M.: FamilienfotoSteinert, M. mit EhemannSteinert, M.: Brief 

Steinert, M.

Steinert, M.: Familienfoto

Steinert, M. mit Ehemann

Steinert, M.: Brief

 

Alle Fotos aus dem Privatarchiv Lore Sieberts