Die schwere körperliche Arbeit nahm uns voll und ganz in Anspruch und forderte - vor allem in den ersten Jahren - alle unsere Kräfte. Trotz allem versuchten wir aber, uns geistig wach zu halten und der Gefahr einer völligen Verödung und intellektuellen Verarmung mit allen Mitteln entgegenzuwirken. Bei der mörderischen Außenarbeit im hohen Norden reichten allerdings die Kräfte nicht aus, wenn man davon absieht, dass wir uns hin und wieder zu einem Gespräch im engsten Kreis über Sinn und Unsinn des Lebens zusammenfanden. Nachdem unser Transport in Mordowien eingetroffen war und wir uns rund drei Monate im Quarantänelager aufhalten mussten und auch später, als wir auf die Arbeitslager aufgeteilt wurden, suchten wir Mithäftlinge ausfindig zu machen, mit denen wir uns zu Gesprächen zusammentun konnten. Bald kamen kleine Gesprächs- und Diskussionsgruppen zustande. Die Palette dieser Gespräche reichte von ernsten Problemen des menschlichen Zusammenseins, von Politik, Geschichte, Kultur und Religion bis zu trivialen Themen. ...
Alle diese Gespräche brachten vielleicht nicht immer wissenschaftlich haltbare Erkenntnisse und Ergebnisse, aber sie halfen uns, geistig rege zu bleiben, nachzudenken und irgendwie mit der wenigen uns zur Verfügung stehenden Zeit, in der wir nicht körperliche Sklavenarbeit leisten mussten, etwas Nützliches anzufangen. Nichts hätte ich für verderblicher gehalten als dumpfes Vor-sich-Hinbrüten oder Sich-gehenlassen, als sich der Hoffnungslosigkeit hinzugeben und einfach vor dem Schicksal zu kapitulieren. Zu oft hatte ich die verhängnisvollen Folgen einer solchen Gemütsverfassung erlebt, zu oft sehen müssen, wie körperlich gesunde und kräftige Mitgefangene in kurzer Zeit zugrunde gingen, weil sie sich geistig und seelisch völlig abkapselten und sich unaufhörlich vorjammerten: "Wir kommen hier nie wieder 'raus!". Mit einer solchen Haltung konnte ich mich nicht abfinden. Ich hielt es auch für meine Pflicht, meine Leidensgefährten, besonders meine jüngeren Landsleute, vor solchen düsteren Gemütsstimmungen zu bewahren. Den wenigen, die sich gehen ließen, versuchte ich gut zuzureden und ihnen Hoffnung zu machen, so wenig Anlass auch dafür gegeben sein mochte.
Walter Schmid: Russische Jahre: 1939-1941, 1945-1955,1968-1971. Bouvier Verlag Bonn 1996, S.130 und 135.
(Textauszug S. Jenkner)
|