Seit vielen Jahren ist das Ende des Diktators von den Gefangenen mit einer Intensität erhofft worden, die in den Annalen der menschlichen Verzweiflung ihresgleichen suchen dürfte. Die Fotos anlässlich des Parteitages sind Gegenstand der ausführlichsten Betrachtungen.
"Er sieht alt genug aus, hoffentlich wird er bald krepieren", sagen die Gefangenen.
Sie wissen: solange Stalin lebt, haben sie nicht die geringste Chance, aus dieser Hölle herauszukommen. Der 19. Parteitag gibt ihren Hoffnungen neuen Auftrieb. Als Radio Moskau die historische Apoplexie verkündet, geht eine Woge der Hoffnung durch die Lager: sicher wird er nicht wieder genesen. Die ärztlichen Bulletins sind im Ton eines dämpfenden, das Ende vorbereitenden Pessimismus gehalten. In jeder freien Minute umlagern die Gefangenen den Lautsprecher. So vergehen vier Tage in einer zunehmenden Spannung, endlich in die Gewissheit mündend, dass er sich nicht mehr, wie Lenin, auch nur vorübergehend erholen wird. "Sag mir, Batja, du bist Arzt, was heißt das: er kriegt Sauerstoff? Kann er davon noch einmal gesund werden?" Ich antworte: "Wenn es stimmt, was sie im Radio sagen, wird er sterben... Vielleicht ist er auch schon gestorben, aber sie verkünden es dem Volk nicht, bevor sie nicht eine neue Regierung haben."
Als die Mitteilung von seinem Tode kommt, liegen bärtige Muschiki mit Tränen in den Augen auf den Knien und beten. "Neunzehn Jahre bin ich jetzt im Lager", sagt ein Grusinier, "aber eine so gute Nachricht habe ich noch nie bekommen." "Gott hat die Juden errettet", flüstert mir ein polnischer Zionist zu, der, einst der Gestapo entronnen, 1940 zu fünfzehn Jahren verurteilt worden ist. "Wenn er nicht gestorben wäre, es hätte wieder Pogrome gegeben, wie zur Zeit der Schwarzen Hundert oder Petljuras oder Hitlers."
Als ich heißes Wasser für meine Baracke hole, begegne ich auf dem großen Lagerboulevard meinem besonderen Freund, einem alten Usbeken. Er spricht nur wenig Russisch und kein Wort Deutsch. Ich verstehe kein Wort Usbekisch. Er bleibt vor mir stehen. Ich klopfe ihm auf die Schulter; er lächelt mich an. Dann zwirbelt er einen nicht vorhandenen Schnurrbart, schließt die Augen, legt den Kopf leicht zur Seite, führt die flache Hand an die Wange und sagt: ?Spit. Er schläft."
Er lächelt wieder eine Weile. Dann fügt er hinzu: "Choroscho! Gut!"
Joseph Scholmer: Die Toten kehren zurück. Bericht eines Arztes aus Workuta. Verlag Kiepenheuer & Witsch Köln / Berlin 1954, S.204/205.
(Textauszug S. Jenkner)
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