Unter den Deutschen schälte sich ein Kern mit beispielhafter Kameradschaft heraus. Überwiegend Jugendliche, die alle einen ähnlichen Leidensweg hinter sich hatten. Zu dieser Gruppe von etwa 10 Mann, die in verschiedenen Baracken wohnte und in unterschiedlichen Brigaden arbeitete, zählten noch zwei Ältere als Quasi-Vaterfiguren. Die Treffen erfolgten außerhalb der Arbeitszeit mit viel Umsicht, um auch hierbei nicht den Verdacht der Gruppenbildung mit dem Ziel zur Aufwiegelei zu erregen. Aus diesem Grunde konnte sich auch nicht aus der Gesamtzahl der anwesenden Deutschen eine "Kolonie" bilden. - Als später die zum Teil wochenlangen Produktionsunterbrechungen für die gesamten Fabrikarbeiter Freizeit erzwangen, vertiefte sich die Kameradschaft unserer Gruppe immer stärker und bleibt für mich in der Erinnerung ein sehr positiver Faktor der Gefangenschaft.
Keiner von uns hatte außer der erarbeiteten Ration zusätzliche Unterstützung zu erwarten. Die sich immer stärker zeigende Integration in die Vielvölker-Gesellschaft, bedingt durch bessere russische Sprachkenntnisse, brachte dem einen oder anderen schon mal ein Säckchen Graupen, eine Zehe Knoblauch oder eine Zwiebelknolle aus einem Paketempfang der Russen, Letten oder Esten ein. Dies wurde bis zum Geburtstag eines Kameraden aufbewahrt und als Festessen in irgendeiner Barackenecke "serviert". Diese Verbundenheit empfand ich nach dem jahrelangen Alleinsein im Gefängnis als so wohltuend, dass sich alle sonstigen Entbehrungen um ein Vielfaches besser ertragen ließen...
Die Integration in das Völkergemisch und das Selbstbewusstsein der jungen Deutschen hatten sich durch die nahezu perfekten Kenntnisse der russischen Umgangssprache in einer Weise verstärkt, dass die früher zu duldende Klassifizierung fast verschwand. Wir ließen auch die beleidigende Anrede "Fritz" nicht mehr zu. Dies wurde allgemein auch beachtet - lediglich in Streitfällen brachen alte Wunden wieder auf. Die älteren Deutschen, mit wesentlich schlechteren Sprachkenntnissen und mangelnder Anpassungsfähigkeit, unterlagen leider noch vielfach den früheren Gegebenheiten. Erstaunlich, wie sich bei den Altersklassen das Lernvermögen der russischen Sprache in abgestufter Weise zeigte. Trotz gleichlanger Gefangenschaftsdauer warteten die 20-25jährigen überwiegend mit perfektem - die 30-40jährigen mit wesentlich schlechterem und die 50jährigen mit sehr schlechtem Sprachvermögen auf. Zwangsläufig vollzog sich in gleicher Abstufung die Kontaktbasis und Integration.
Eberhard Pautsch: Und dennoch überlebt. Als Sechzehnjähriger auf dem "Archipel Gulag". Laumann Verlag Dülmen 1984, S.344/345 und 372/373
(Textauszug S. Jenkner)
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