Nach der Arbeit rief mich der Prorab zu sich. Während ich bedächtig meinen Brei löffelte, hielt er mir eine richtige Rede:
"Du bist Deutscher. Darum wird dich noch lange der Haß und das Mißtrauen vieler Menschen hier verfolgen. Man wird dich Faschist nennen und dir mit Vorliebe schwere Arbeit zuweisen. Und nicht überall wartet ein Wanja auf dich, um dich vor dem Tod zu bewahren.
Ich gebe dir einen guten Rat: Überleg dir, ob du nicht ein Handwerk erlernen kannst, das nicht zu viele beherrschen und das gleichzeitig automatisch für die erste Kategorie zugelassen ist. Du kannst nicht damit rechnen, auf die Dauer so gut wegzukommen wie bei mir. Es müßte ein Handwerk sein, in dem man nur wenig mit Eisen zu tun hat. Einen deutschen Ingenieur beschäftigt man nur ungern in der Schlosserei. Am besten ist es nach meiner Erfahrung, wenn du Zimmermann wirst. Dann hast du eine Arbeit, die nicht zu schwer ist und weit besser bewertet wird als Schufterei im Wald und ähnliches. Jetzt gib dich ruhig einmal mit meinen Listen und Zeichnungen ab. Aber wenn es dir gesundheitlich besser geht, solltest du jeden Tag ein paar Stunden Beil und Säge in die Hand nehmen. Ein guter Zimmermann wird überall geschätzt. Es stimmt, daß es den Schlossern im allgemeinen noch besser geht, aber, wie gesagt, du bist Deutscher, und bei denen hat man immer Angst, sie würden vielleicht einen Schießprügel fabrizieren. Du mußt das einfach verstehen: Für die Lagerbeamten ist das Moskauer Urteil so heilig wie für dich die Bibel. Für sie bist du ein Spion, und damit basta! Also, was meinst du zu meinem Vorschlag?"
Ich begriff, daß weitere Ratschläge für heute nicht mehr zu erwarten waren, hielt mich mit Recht für überflüssig und verabschiedete mich, entschlossen, die gutgemeinten Worte des Prorab in die Tat umzusetzen.
Im Verlauf mehrerer Monate lernte ich Bretter hobeln, Stämme vierkant behauen, Böden verlegen, Dächer decken, Holzschindeln spalten, Tür- und Fensterrahmen mit Säge und Beil bearbeiten, Fensterverzierungen aussägen, Blockhauswände errichten, Öfen setzen und dergleichen Dinge mehr, schließlich auch das Werkzeug benennen und instand halten.
Anfangs überkam mich noch eine klägliche Angst schon beim Anblick eines Beils. Ich meinte, es nie mehr fest in den Händen halten zu können. Aber bald führte ich es wieder so sicher, daß ich millimetergenau in die vormarkierte Kerbe hieb oder zwischen die gespreizten Finger, wie damals im Wald.
Drei Monate später vertraute man mir sogar eine Gruppe von künftigen Zimmerleuten an, die ich zu schulen hatte.
Helmut Leutelt: Menschen in Menschenhand. Bericht aus Sibirien. Paul List Verlag München 1958, S.112/113.
(Textauszug S. Jenkner)
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