An einem Morgen im Juni 1950 hieß es: »Alle zum Lagertor kommen! « Ein uns unbekannter Offizier im Rang eines Obersten stieg auf ein Podest und erklärte, er sei der Vorsteher der Lagerverwaltung der Kolyma. In einer Stunde sollten wir alle am Tor des Lagers erscheinen, wir würden mit Lastwagen abtransportiert. »Wer sich strafbar macht, wird vom Kolyma-Gericht verurteilt: Bei uns in der Kolyma ist die Taiga das Gesetz und der Bär der Richter! Verstanden? Noch Fragen?«
Es herrschte Grabesstille. Niemand rührte sich. Alle wussten, jetzt geht es in die Hölle, aus der nur selten jemand lebend herauskommt. Wer überlebt, würde mit Sicherheit gesundheitlich und seelisch am Ende sein.
»Auf was wartet ihr Hundesöhne? Marsch in die Baracke!« Dann folgte noch ein Schwall gemeinster Flüche. Meinen Angehörigen schrieb ich einen kurzen Brief, daß ich in einer Stunde die Reise nach der Kolyma antreten werde. Der Brief ist nie angekommen.
Mit Lastwagen rollten wir in Richtung Norden. Für die meisten war es die Fahrt in den Tod. Die Wachmänner waren extra aus der Kolyma angereist. Unsere bisherige Bewachung war hart und grob, die neuen Wachmänner aber wirkliche Sadisten. Auf dem Weg von etwa dreihundertfünfzig Kilometer, die Straßen waren sehr schlecht, hielten wir während der sechsstündigen Fahrt nur einmal, es durfte aber niemand absteigen, selbst in dringendsten Fällen nicht. Als ein Gefangener trotzdem bat absteigen zu dürfen, erhielt er Schläge mit dem Gewehrkolben. »Scheiß in die Hose, du Missgeburt!« schrie ihn ein Wachmann an. Anderen ging es genauso, und es fing an zu stinken.
Die kleine Hafenstadt Tommot am Fluss Aldan erreichten wir mit steifen Beinen. Es ist eine Tortur, sechs Stunden lang zusammengepfercht in der Hocke zu verharren. Wir wurden in dunkle Holzbaracken gesperrt. Bis zum nächsten Tag gegen elf Uhr gab es nichts zu trinken und zu essen...
In diesen dunklen Holzbaracken, die als Übergangsgefängnis dienten, lebten wir zehn Tage. Dann wurden wir - 1227 Häftlinge -in einen großen Lastkahn gepfercht. Oben auf dem Verdeck wohnten die Wachmänner mit den Schäferhunden, wir Häftlinge hausten im Rumpf des Kahns, wie Heringe lagen wir in vier Reihen. Mit meinen Lagerbekannten stand ich unter dem Schutz der Kriminellen. Das war sicher nicht uneigennützige, ritterliche Dankbarkeit; sie hofften, wir könnten ihnen in der Kolyma - denn auch sie fürchteten die schreckliche Kolyma - gute Dienste leisten.
In diesem Lastkahn fuhren wir, gezogen von einem Schlepper, eine Woche lang den Timpton und den Aldan hinunter...
Wir kamen alle lebend in dem kleinen Ort Chandyga an. Dass ein so langer Transport ohne Tote abging, war selten.
Es war ein sonniger Tag Ende Juni 1950. Eine Schiffstreppe führte uns auf ein sandiges Ufer. Wie wohl tat die warme Sonne und die reine Luft! Wir mussten uns in den Sand setzen. Jetzt erst sahen wir, daß der Schlepper zwei Lastkähne gezogen hatte. Der zweite Kahn war mit Frauen besetzt gewesen. Nachdem wir Männer unseren Kahn verlassen hatten und von Wachmännern und Schäferhunden umringt waren, wurden die Frauen, etwa tausend, ans Ufer geführt.
Nach einer Stunde wurden wir in Fünferreihen aufgestellt und noch einmal gezählt. Es stimmte, eintausendzweihundert- siebenundzwanzig waren wir. Man führte uns durch eine ärmliche Siedlung ins Lager. Das Lager war in zwei symmetrische Hälften geteilt, getrennt durch den gleichen Stacheldrahtzaun wie die Umfassung. Wachttürme standen an den Ecken und am Trennzaun in der Mitte. Wir mussten uns duschen und wurden entlaust, und als Essen gab es einen Teller Hafergrütze und dreihundert Gramm Brot ?wie immer exakt abgewogen. Die Frauen mussten dieselbe Prozedur durchmachen.
Georg Hildebrandt: Wieso lebst Du noch? Ein Deutscher im GULAG. Taschenbuchausgabe Verlag Ullstein Frankfurt/Main-Berlin 1993 S. S.162-165.
(Textauswahl: S. Jenkner)
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