Oftmals hörte ich im Lager den Satz, Workuta sei eine Universität des Lebens. Mit dem Abstand von Jahrzehnten möchte ich diesen Ausspruch voll bestätigen. In Workuta lernte ich nicht nur den Kampf um das Überleben in einer extremen Situation, allein auf mich gestellt, ohne Hilfe erwarten zu können. Ich machte auch die Erfahrung einer menschenverachtenden Diktatur, für die das Leben des Einzelnen ohne Bedeutung war. Ich erfuhr, was seelischer Schmerz ist - bei mir und bei meinen Leidensgenossen. Niemals werde ich die während des Schlafes ausgestoßenen Schreie und das Stöhnen der gequälten Kreaturen vergessen. Niemals aber vergesse ich auch die Demütigungen, die den Menschen zugefügt wurden um ihre Persönlichkeit, ihre eigene Identität zu zerstören. Das lehrte mich, niemals einen Menschen bewusst zu demütigen oder zu verletzen. Ich lernte den Umgang mit Menschen der verschiedensten nationalen und sozialen Herkunft. Ich habe aber auch erfahren, wie nützlich es ist, fremde Sprachen zu erlernen und das Gespräch und die Freundschaft mit anderen Menschen zu suchen. Viele meiner Kenntnisse über die Völker der Sowjetunion und die Funktionsweise des kommunistischen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Systems, die ich später als Vorstand des Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft Ost- und Südosteuropas der Universität München auch beruflich verwerten konnte, verdanke ich den intensiven Gesprächen mit den Menschen in den Zwangsarbeitslagern Workutas, mehr als hundert Kilometer nördlich des Polarkreises. Dort erkannte ich auch, dass menschliches Leid unteilbar ist, unabhängig davon, welches totalitäre Regime es welchen Menschen auch immer zufügt.
Aus: Studentischer Widerstand an den mitteldeutschen Universitäten 1945 bis 1955. Hrsg. von Jens Blecher und Gerald Wiemers. Leipziger Universitäts Verlag 2005, S. 177.
(Textauswahl: S. Jenkner)
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