biographie

 
   
 
 

Käthe

Fraedrich

 
 

Das Krankenrevier bestand im Grunde nur aus einem einzigen Raum, in dem über 20 Frauen untergebracht waren. Ein kleiner Nebenraum konnte außerdem noch im Notfall zwei weitere Patienten aufnehmen. Sechs richtige Stahlbettstellen waren vorhanden, die übrigen Kranken lagen zum Teil auf Holzbetten oder primitiven Gestellen...

Auf der Krankenstation waren so ziemlich alle Nationalitäten vertreten. Auf die Art der Erkrankung wurde keine Rücksicht genommen. Infektiös Erkrankte mischten sich wahllos unter die anderen. Die Lagerstätten wurden sofort wieder belegt, wenn sie frei wurden. Auf die noch körperwarme Matratze der soeben entlassenen Tbc-Kranken streckte sich im nächsten Moment die Dystrophikerin mit ihren offenen Wunden und umhüllte sich mit der keineswegs desinfizierten Decke ihrer Vorgängerin. Die Ansteckungsgefahr war ungeheuer groß, doch kein Mensch nahm Anstoß daran. Die von Zeit zu Zeit kontrollierende »Natschalniza Santschastj« hatte nur das eine Interesse, den Prozentsatz der Erkrankten möglichst niedrig zu halten, denn nach ihm wurde der Gesamtzustand der Inhaftierten beurteilt. Je niedriger die Zahl gehalten werden konnte, desto sicherer erhöhte sich die Aussicht auf eine Prämienleistung. Diesem System erlag jedes ärztliche Gewissen.

Die Gefangenen machten selbst ihre Betten, wuschen sich auf dem zugigen Gang mit einer Kruschka voll Wasser und mußten zur Verrichtung ihrer Notdurft den Abort aufsuchen, der 60 Meter entfernt im Freien aufgestellt war. Hierin trat zu keiner Jahreszeit irgendeine Änderung ein. Die Fieberthermometer wanderten am Morgen und am Abend unsterilisiert von einer Achselhöhle zur anderen. Die Behandlung bestand in der Verabreichung gleicher Tabletten für alle und alles. Das Hauptaugenmerk wurde ausschließlich auf die Temperatursenkung gelegt. Wer kein Fieber mehr hatte, wurde kategorisch für gesund erklärt. Erhöhte Temperatur zählte überhaupt nicht. Die kleine russische » Ärztin« machte einmal am Tag Visite. Wenn sie sich für einen Kranken zu interessieren begann, dann war das ein sicheres Zeichen für seine bevorstehende Entlassung. Man munkelte, daß sie gewissen Gefälligkeiten gegenüber nicht unempfindlich sei, ja daß die Dauer der stationären Behandlung überhaupt davon abhinge. Wer immer nur konnte, machte davon ausgiebig Gebrauch.

Käthe Fraedrich: Im GULAG der Frauen. Universitas Verlag München 1997, S.200/201.

(c) 1997 by Universitas Verlag in der F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

(Textauswahl: S. Jenkner)

   
 

1916

Geboren.

Nach 1945

Als Westberliner Sozialdemokratin im antikommunistischen Widerstand tätig.

1948

In den Ostsektor gelockt und verhaftet, Verurteilung zu fünfundzwanzig Jahren Zwangsarbeit.

1948-1955

Haft im mordwinischen Lagergebiet Potma.

Herbst 1955

Entlassung aus der Lagerhaft und Rückkehr nach Deutschland.
Arbeitete im Ostbüro der SPD und in der Flüchtlingsbetreuung.

1997

Veröffentlichung der Erinnerungen "Im GULAG der Frauen".

Lagerhaft in

TEMNIKOWSKI-ITL

     
 

Fotos, Illustrationen und Dokumente

Die Veröffentlichung des Buchauszugs erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Universitas Verlags sowie der Buchverlage Langen Müller, Herbig, Nymphenburger.