biographie

 
   
 
 

Susanna

Solomonowna

Petschuro

 
 

"Zwei Wochen in einer Gemeinschaftszelle waren, wie später klar wurde, ein großes Glück. So kann man sich besser anpassen als in Einzelzellen, in die wir kamen, nachdem man uns ins Lefortowo-Gefängnis verlegt und unser Verfahren an die Abteilung für besonders wichtige Fälle des MGB der UdSSR übergeben hatte.

Unsere anderen Kameraden, die weit weniger schuldig als wir oder überhaupt nicht schuldig waren und die später, im Februar und März, verhaftet wurden, gerieten sofort in die Einzelzellen des Lefortowo.

Mein Einzug in die Zelle der Kleinen Lubjanka war tragikomisch. Ich stelle mir das Erstaunen der Gefangenen vor, als sie am Eingang ein kleines Mädchen mit zerzausten Zöpfen sahen, das sie mit Fragen wie: ‚Weshalb sitzen Sie?’ ‚Welcher Partei gehören Sie an?’ ‚Gibt es hier Fluchtmöglichkeiten?’ aus der Fassung brachte.

Nachdem sie sich von dem Schock erholt hatten, erklärten mir die Frauen, die ja selbst nicht wussten, wofür sie saßen, in welcher Welt ich mich hier befand. Generell verhielten sie sich sehr gut zu mir. In zwei Wochen absolvierte ich eine Überlebens-Schule im Gefängnis: Ich lernte das Klopfen, dann wie man Nähnadeln aus Fischgräten in der Balanda oder aus Borsten herstellt, außerdem, wie man im Sitzen schlafen kann und zwar so, dass der Aufseher es nicht merkt, und vieles weitere, was mir später das Überleben erleichterte.

Die Untersuchung zog sich ein Jahr hin und war sehr schwer. Man erniedrigte und beleidigte uns, täuschte und ängstigte uns; oft ließ man uns nächtelang nicht mal eine Stunde schlafen, kurz, es wurden alle Methoden angewandt, die man später delikat als „unerlaubt“ bezeichnete.

Der Kampf einer Gruppe von Jugendlichen zwischen 16 und 20 Jahren mit der riesigen, schlagkräftigen, gnadenlosen und unmenschlichen Repressionsmaschinerie war ein ungleicher Kampf.

Die Anklagen waren völlig idiotisch, von Plänen, Stalin zu ermorden bis zu Waffenbesitz und der Absicht, die Metro in die Luft zu jagen.

...

Das Urteil war ein Schock. An unser weiteres Schicksal zu denken war völlig unmöglich. Es gab nur eines: werden die Jungen am Leben bleiben?

Ich hoffte darauf die ganzen Jahre der Haft. Ich fragte alle nach ihnen, denen ich auf meinen zahlreichen Durchgangslagern auf den endlosen Transporten begegnete, was bei mir häufiger als bei den anderen der Fall war. Manchmal, wie Sumpfflämmchen in der Finsternis der Verzweiflung, kamen nebelhafte Gerüchte auf: man hatte sie gesehen, von ihnen gehört in der Katorga, in Bergwerken, auf Kolyma, in geschlossenen Gefängnissen.

Erst im Frühjahr 1956, während des Revisionsverfahrens, wurde mir ein Dokument vorgelegt, in dem das Erschießungsdatum (ein falsches!) von Boris genannt war.

Im Juli 1989 im Zuge der Rehabilitierung erfuhren wir, dass Boris, Wladik und Schenja in der Butyrka am 26. März 1952 erschossen worden waren.

Auf den Transporten und in den Lagern erlebten wir ein solches Meer von menschlichem Leid, von Erniedrigungen und Ausweglosigkeit, dass man sich gar nicht auf sein eigenes Schicksal konzentrieren konnte. Ich freundete mich mit jungen Frauen aus der Ukraine und dem Baltikum, mit einer Deutschen, einer Polin und einer Armenierin an. Alte Häftlinge, durch das Leben weise gewordene tapfere Menschen, Zeugen und Teilnehmer von Ereignissen, die wir jungen noch nicht ausgebildeten Personen nur verfälscht aus Schulbüchern kannten, von denen wir mitunter auch noch gar nichts gehört hatten, öffneten uns die Augen für die tatsächliche Geschichte unseres Landes. Erst in den Lagern begriffen wir die ganze Tragweite des Bösen, das seit Jahrzehnten in unserem Lande herrschte. Unsere Anschauungen, bis dahin reichlich oberflächlich und schwankend, wurden fundiert und beständig."

Susanna Pečuro: Ja blagodarna sud'be... (Ich bin dem Schicksal dankbar). In: Karta 26.

   
 

1933

Geb. in Moskau.

1950/51

Schließt sich noch als Schülerin dem literarischen Zirkel um Boris Sluzki und Wladlen Furman an, aus dem später der "Kampfbund für die Sache der Revolution" hervorgeht.

18./19.01.1951

Verhaftung. Untersuchungshaft zunächst im Gefängnis der Gebietsverwaltung des MGB (Malaja Lubjanka - Kleine Lubjanka) in einer Gemeinschaftszelle, später im Lefortowo-Gefängnis in Einzelhaft.

07.02.1952

Prozess gegen die Mitglieder der Gruppe vor dem Militärkollegium des Obersten Gerichts. Anklage nach Artikel 58-1a, 8, 10, 11. Verurteilung zu 25 Jahren Lagerhaft.

1952-1956

Haftverbüßung u. a. in Workuta, Potma und Abes. Immer wieder Transporte nach Moskau zwecks weiterer Verhöre im Zusammenhang mit anderen geplanten Prozessen.

Februar-April 1956

Revisionsverfahren in Moskau, Herabsetzung des Strafmaßes.

25.04.1956

Entlassung aufgrund einer Amnestie von 1953.

1989

Vollständige Rehabilitierung der Gruppe mit dem Hinweis auf "unerlaubte Untersuchungsmethoden".

01.01.2014

Tod in Moskau.

Lagerhaft in

MINERALLAGER, BELOGORSKI-ITL, BAU 585 UND ITL, WORKUTA-ITL, EICHENHAINLAGER

   
 

Ausgewählte
Biographien

 
 

Fotos, Illustrationen und Dokumente

Biographie: Vera Ammer

Für die Veröffentlichungsgenehmigung des Zitats und der Fotos danken wir Susanna Petschuro, Maja Ulanowskaja und Arkadi Galkin.