biographie

 
   
 
 

Joseph

Selbiger

 
 

Gesuch aus dem Gefängnis an den Volkskommissar für Staaatssicherheit Merkulow um Ausreise nach Deutschland:

"Es ist Ihnen wahrscheinlich bekannt, daß ich das zweifelhafte Vergnügen habe, mich drei Jahre lang in der Untersuchungshaft zu befinden. Es ist Ihnen weiter bekannt, daß ich deutscher Staatsangehöriger bin und gegen keinerlei Gesetze Ihres Landes verstieß. Sowjetische Behörden haben immer noch nicht begonnen, diese Handlung wiedergutzumachen, die eine Herausforderung der Humanität und der Zivilisation, des Völkerrechts und der sowjetischen Gesetze darstellt. Ich weiß nicht, ob meine Lage nicht auch letztendlich ein internationaler Skandal ist. Ich jedenfalls empfinde dies so. Wollen Sie wirklich, daß wir Europäer den letzten Respekt vor Ihnen verlieren? Dachten Sie nicht daran, daß diese Geschichte, gleich, ob Sie das wollen oder nicht, irgendwann bekannt werden wird? Zum Teufel noch einmal! Es ist mir genug, ein Opfer Ihres Apparats zu sein. Ich verlange auf das Entschiedendste eine Möglichkeit, aus der UdSSR auszureisen! Ich will nicht in Ihrem Land bleiben, hätte man mir sogar alle Schätze der Welt versprochen! Geben Sie mir die Möglichkeit, mit dem deutschen Konsul in Moskau zu sprechen! Nehmen Sie schließlich auf internationale Gesetze und Gebräuche Rücksicht, wenn Sie als zivilisierter Staat angesehen werden wollen! Übrigens: die Zivilisation! Meine Lage, vom rein materiellen Standpunkt aus gesehen, ist der sicherste Beweis dafür, daß hier auf die Zivilisation keine besondere Rücksicht genommen wird. Ich sitze hier bereits drei Jahre lang, dazu noch krank. Das wird aber für Sie egal sein, auch hier ist letzten Endes jeder sich selbst der Nächste und für Sie sind Zivilisation und Humanität nur relative Begriffe. Noch einmal. lassen Sie mich nach Deutschland zurück!



J. Selbiger"

Reinhard Müller: Joseph Benjaminowitsch Selbiger – Zur Biographie eines "namenlosen" Emigranten. In: Exil, Forschung, Erkenntnisse, Ergebnisse, 2002, Nr. 1, S. 23-29, hier S. 28.

   
 

13.05.1910

Geb. in Duisburg.

März 1932

Beitritt zur KPD. Politischer Leiter einer KPD-Zelle in Duisburg.

1928

Beitritt zur SPD.

1933

Ein Hochverratsverfahren gegen ihn wird eingeleitet.

Mai 1933

Geht ins Saargebiet, redigiert dort die Zeitung "Der Emigrant".

1935

Verlässt nach der Saarabstimmung das Saargebiet; acht Monate Aufenthalt in einem Emigrantenlager in Straßburg.

27.09.1935

Einreise in die Sowjetunion (nach Zustimmung der "Internationalen Roten Hilfe" (MOPR) und der Pariser KPD-Emigrationsleitung).

1935/36

Lebt nach einem Sanatoriumsaufenthalt (wegen Tbc) als Invalide in Moskau.

12.03.1937

Verhaftung. Beschuldigung der Mitgliedschaft in einer angeblichen "trotzkistisch-terroristischen, konterrevolutionären Gruppe" unter der Bezeichnung "Hitlerjugend".

Juni/Juli 1940

Mehrfacher Widerruf seiner nach langen Foltern abgegebenen Geständnisse.

Januar 1941

Gesuch um Ausreise nach Deutschland.

07.04.1941

Verurteilung zu fünf Jahren Lagerhaft.

1941

Haftverbüßung im Uchtischemlag.

19.08.1941

Verhaftung im Lager.

14.10.1941

Verurteilung zum Tode durch das Oberste Gericht Komi nach Art. 58-10, Abs. 2, 58-11 StGB der RSFSR.

Lagerhaft in

UCHTA-ISCHMA-ITL

     
 

Fotos, Illustrationen und Dokumente

Joseph Selbiger    

Joseph Selbiger

    

Biographie: Vera Ammer

Wir danken Reinhard Müller für die zur Verfügung gestellten Materialien und das Foto.