|
|
|
Ab heute arbeiteten in unserer Brigade drei Frauen, sie mußten die schweren Äste zum Feuer schleppen. Zwischen ihnen und den Männern, die vor ihnen diese Tätigkeit ausgeübt hatten, sah man äußerlich fast keinen Unterschied, sie waren genauso ausgezehrt, genauso dreckig und genauso schlecht mit alten zerschlissenen Wattejacken und Wattehosen bekleidet. Weiblich waren nur ihre höheren Stimmen und ihre langen Haare. Frauen wurden nicht geschoren. Ausnahmen gab es nur, wenn sie der Kopfläuse nicht mehr Herr werden konnten. Äußerlich besaßen diese Frauen keine weiblichen Reize, und die Männer, die mit ihnen arbeiteten, betrachteten und behandelten sie auch nicht wie Frauen, sondern fluchten auf sie mit denselben ordinären Worten, wie sie unter Männern üblich waren...
Wir liefen nach Norden. Über der Silhouette des in der Ferne liegenden Lagpunktes erhob sich der Himmel im schönsten Farbspektrum. Darüber bewegte sich ein breites gelb-grünes Band des Polarlichtes mit unzähligen nach oben strebenden Strahlen.
Ich stieß den neben mir Gehenden an.
"Ist das nicht großartig?"
"Scheiß auf den Himmel! Wird man davon vielleicht satt?" blökte er mich an.
Eine kleine Frau, die vor uns ging, drehte sich um. "So schön habe ich das Nordlicht noch nie gesehen."
"Scheiß drauf!" wiederholte mein Nachbar.
Am nächsten Morgen, als wir zur Arbeit gingen, wurden unserer Brigade wieder dieselben drei Frauen zugeteilt. Die Frau, die gestern auf dem Heimweg auch das Nordlicht bewundert hatte, kam auf mich zu und wollte mir ein Stück Brot geben.
"Warum?" fragte ich.
"Ich möchte Ihnen etwas schenken, aber etwas anderes habe ich nicht."
"Warum schenken?"
"Sie haben den Sinn für Schönheit nicht verloren, sind ein Mensch geblieben."
"Das ist doch Ihre heutige Ration, dann sind Sie doch hungrig!"
"Das bin ich immer." Ich brach von ihrer Ration nur ein kleines Stückchen ab, aß es und bedankte mich und gab ihr das übrige Stück zurück.
"Essen Sie Ihr Brot, Sie haben doch auch den Himmel schön gefunden, warum wollen Sie dafür den ganzen Tag hungern? Ich habe meine Ration schon gegessen."
Abends gingen wir nebeneinander zurück zum Lagpunkt. Heute war kein Nordlicht.
Helmut Damerius: Unter falscher Anschuldigung. 18 Jahre in Taiga und Steppe. Aufbau Verlag, Berlin/Weimar 1990, S. 132/33.
(Textauswahl: S. Jenkner)
|
|
|
|
|
|
1905 | In Berlin geboren, aufgewachsen im "roten Wedding".
Erlernt den Beruf eines Blumenbinders, arbeitet als Laufbursche in einer Polsterwerkstatt, später als Anstreicher.
Gewinnt erste politische Eindrücke im Kreis der Lankwitzer "Naturfreunde. | 1923 | Mitglied der KPD. Leitet eine der besten Agitpropgruppen der Weimarer Republik, die "Kolonne Links".
| 1931 | Emigration mit seiner Gruppe in die Sowjetunion, dort Auftritte vor ausländischen Arbeitern.
Studium am Staatlichen Institut für Theaterkunst.
Annahme der sowjetischen Staatsbürgerschaft.
| 1938 | Verhaftung durch das NKWD, Beschuldigung wegen angeblicher Spionage, Verurteilung in Moskau zu sieben Jahren Arbeitslager.
| 1938-1947 | Haftverbüßung unter menschenunwürdigen Bedingungen im Lagergebiet Solikamsk (Nordural), wo er zumeist schwere Waldarbeit leisten musste. | 1947-1955 | Entlassung aus der Lagerhaft mit der Auflage, in Kasachstan in "freier Ansiedlung" zu leben. | 1955 | Aufhebung des Urteils und Rehabilitierung. | 1956 | Ausreise in die DDR, mit der "strikten und strafbewährten Auflage", nicht über seine Vergangenheit in der Sowjetunion in Wort oder Schrift zu berichten.
Wird nach seiner Rückkehr Leiter der Konzert- und Gastspieldirektion der DDR. | Anfang 1980er Jahre | Beginnt heimlich über die "Jahre seiner sinnlosen Verhaftung, den Verlust seiner Lebensmitte" zu schreiben. | 1982 | Übergibt das fertige Manuskript an Professor Werner Mittenzwei. | 1985 | Stirbt in Ost-Berlin. | 1990 | Postume Veröffentlichung der niedergeschriebenen Erinnerungen "Unter falscher Anschuldigung. 18 Jahre in Taiga und Steppe" . | |
Lagerhaft in | SOLIKAMSKER ITL |
|
|
|
|
|
|