Inzwischen hatten wir die Wohnungsverhältnisse der Zwangsübersiedelten gesehen und mußten feststellen, daß die Wolgadeutschen noch viel schlechter untergebracht waren als wir. In einem mittelgroßen Raum lebten meisten zwei Familien, oft waren das zehn oder elf Personen. In manchen Hütten gab es nicht ein einziges Bett. Daß Kinder von zwei, drei Jahren auf der Erde schliefen, war überall gang und gäbe, auch bei den wohlhabenden Russen. Wir hatten im Lager geglaubt, schon das Minimum an Behausungskultur kennengelernt zu haben, und nun stellte sich heraus, daß hier Menschen seit Generationen noch dürftiger nächtigten, als wir es im Lager gewöhnt gewesen waren.
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Wir begannen um sieben Uhr früh mit der Arbeit, und war das zugeteilte Terrain bei Sonnenuntergang noch nicht fertig gejätet, so mußten wir bis neun oder zehn Uhr abends arbeiten. Die Mittagssuppe wurde aufs Feld gefahren, so daß wir selten länger als eine halbe Stunde Mittagspause hatten. Nicht einmal im Lager war ich derart ausgebeutet worden. Abends hatten wir dick angeschwollene Gesichter. Auch die Füße waren stets geschwollen. Bei mir erstreckte sich die Schwellung nur auf die Unterschenkel, aber Tina klagte über "Wasser im Bauch". Im Lager hatten wir immerhin eine ordentliche medizinische Betreuung gehabt. In Kubanka aber gab es weder "Invalide", noch gab es einen Arzt. Ich hatte mehrere Herzanfälle, und niemand kümmerte sich darum. Es war nur eine Hebamme im Ort, die von Medizin nichts verstand, außer dem bißchen Feld-, Wald- und Wiesen-Gynäkologie, die ihr Handwerk war. Die unwissende grobe Person gab niemals Arbeitsbefreiung, außer wenn jemand sich das Bein gebrochen hatte oder wenn eine Frau ein Kind gebar.
Susanne Leonhard: Gestohlenes Leben. Als Sozialistin in Stalins Gulag. Athenäum Verlag, Frankfurt/Main 1988, S. 418 und 423.
(Textauszug S. Jenkner)
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