Vor dem Abmarsch zum Steinbruch leierte die Wachmannschaft ihren gewohnten Spruch herunter. Nach einem zügigen Marsch von sechs Kilometern kamen wir bei der Arbeitsstätte an, wo man zwölf Stunden arbeiten mußte. Nach vollbrachter Fron hieß es wieder sechs Kilometer zurückmarschieren. Das Arbeitsgebiet war abgesteckt, beim Übertreten der Begrenzungslinie wurde sofort geschossen. Zum Mittagessen gab es eine Scheibe Brot und eine dünne Maisgrütze.
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Der ewige Hunger war unsagbar qualvoll. Man versuchte mit der Vernunft gegen ihn anzukämpfen. Man probierte es, indem man das Brot auf einmal aufaß, dann wieder in kleinen Portionen, daß man viel Wasser dazu trank, dann wieder keines. Alles half nicht: der Hunger blieb!
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Im Steinbruch herrschte die Überzeugung, daß es keinen Menschen gäbe, der es länger als sechs Monate bei dieser Schwerarbeit aushielt. Ich habe es immerhin auf vier Monate gebracht. Der körperliche Verfall war aber nicht mehr aufzuhalten. Bald stellte sich eine schwere Dystrophie (Ernährungsstörung) ein; zu dieser kam noch eine Avitaminose mit der dazugehörigen Nachtblindheit. Mit Entsetzen spürte ich, wie sich meine Gelenke deformierten und sich Beulen und Knoten am Körper bildeten. Wankend, unförmig und blind schleppte ich mich durch die Polarnacht.
Viktor Stürmer: Ж-895. Im Straflager zwischen Eismeer und Baikalsee. Westkreuz-Verlag Berlin/Bonn 1988, S.38/39, 48 und 52.
(Textauszug S. Jenkner)
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