biographie

 
   
 
 

Johanna

Harms

 
 

An einem Sonntag im Sommer wanderten wir Lagerinsassen alle mit unserer ganzen Habe vom Bereich der Wohnbaracken in das Gelände der Fabrikgebäude. Die Tore wurden hinter uns geschlossen, und wir hatten die Aussicht, erst am Abend auf unsere Pritschen (dem einzigen Platz, auf dem man sich heimisch fühlen konnte) zu klettern. Der ungemütliche Tag, der eigentlich ein Ruhetag sein sollte, bedeutete eine Generaldurchsuchung im Lager. Während wir uns in der anderen Zone aufhielten, wurde auf unserer Wohnseite alles durchstöbert, jeder Winkel innerhalb der Umzäunung. Diese Prozedur wurde jedes Jahr einmal durchgeführt. Ich war unruhig und dachte an den Blumentopf, der auf der Fensterbank unserer Baracke stand. Vor dem Weggehen hatte ich ihn mit vielen beschriebenen Blättern umwickelt. Das Papier war grau und zum Glück nicht auffällig, aber die Posten hatten scharfe Augen. Was würde geschehen, wenn sie die Blätter entdeckten? Ich hatte die Passions- und Ostergeschichte mit passenden Liederversen und Sprüchen nach bestem Vermögen aus dem Gedächtnis aufgeschrieben. Inge und Erna, zwei Mädchen aus Ostpreußen, die im Packraum beschäftigt waren, gaben mir das grobe Packpapier. Die Blätter wanderten von Hand zu Hand unter den deutschen Frauen. Die meisten waren evangelisch, verfügten aber über eine geringe Bibelkenntnis. Sie lasen gern die notdürftige Wiedergabe aus den Evangelien, und manche gaben sie mir mit Tränen in den Augen zurück.

...

Nach vielen Stunden Wartezeit durften wir, nachdem jede mit ihrem Gepäck gründlich durchsucht worden war, in die Baracke zurück. Mein Blumentopf war unversehrt.

Johanna Harms: Im finstern Tal... Erinnerungen aus dem Lagerleben in Rußland. Missionshandlung Hermannsburg 1982, S.115/116.

(Textauswahl: S. Jenkner)

   
 

1908

Geboren.
Ihr Großonkel ist der Gründer der Hermannsburger Mission, Ludwig Harms.

ab 1937

Im Iran (Isfahan, Täbris) im Dienst der Christoffel-Blindenmission tätig.

1941

Verhaftung nach der Besetzung dieses Landesteils durch sowjetische Truppen .
Verlegung in die Sowjetunion und Verurteilung in Baku als angebliche Spionin zu zehn Jahren Zwangsarbeit.

1942-1952

Verbüßung des vollen Strafmaßes im mordwinischen Lagergebiet.

1952

Entlassung aus der Lagerhaft, Ausreiseverbot, Verbannung an den Aralsee.

1955

Rückkehr aus der Verbannung nach Deutschland in ihren Heimatort Harmannsburg.

1979

Gestorben.

1982

Posthume Veröffentlichung ihrer Erinnerungen "Im Finstern Tal... Erinnerungen aus dem Lagerleben in Russland".

Lagerhaft in

BAU DER HAUPTVERWALTUNG DER LAGER FÜR FERNSTRASSENBAU DES MWD NR. 2 UND ITL, TEMNIKOWSKI-ITL

     
 

Fotos, Illustrationen und Dokumente

Die Veröffentlichung des Fotos und Buchauszugs erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Ev.-luth. Missionswerks in Niedersachsen (ELM).